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Gestern, 01:14

Hey. Ich weiß, wir haben bisher kaum miteinander gesprochen, und nur hier virtuell kommuniziert und darum weiß ich auch, wie verrückt die Idee ist und ich bin dir nicht böse, wenn du nichts davon wissen willst und mir danach nicht mehr schreibst, aber ich würde es trotzdem gerne ausprobieren. Wenn wir uns das nächste Mal so rein zufällig zur gleichen Zeit im selben Gang im hintersten Winkel der Bibliothek über den Weg laufen, bitte küss mich. Ohne Vorwarnung, kommentarlos, wortlos. Ich weiß, es ist völlig verrückt, aber es ist ein Experiment und ich möchte etwas herausfinden.

Ich hatte diese Nachricht schon wieder vergessen, oder besser gesagt: versucht, mir einzureden, sie vergessen zu haben, als mir an diesem regnerischen Dezembertag knapp zwei Monate später sein Satz im Kopf nachhallte.

„Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“

Und mit einem schelmischen Grinsen hatte er mir die Hand in meinen Nacken geschoben und mich geküsst.

Ich war erschrocken, überrascht und überrumpelt zugleich, sodass ich im ersten Moment erstarrte. Er seufzte an meinen Lippen, trat näher an mich heran und ich sank in seine Berührung. All die endlosen Konversationen fielen mir ein, die wir bis spät nachts im Internet geführt hatten, all die Diskussionen, belanglosen Tändeleien, all das virtuelle Herumflirten und Witze machen, all die unzähligen Gespräche, in denen er mit keinem Wort auf meine Bitte eingegangen wäre oder sie auch nur irgendwie erwähnt hätte. Es hatte fast den Anschein gehabt, als hätte er sie gar nicht gelesen.

In rasender Geschwindigkeit sausten diese Dinge durch meine Erinnerung, vermischt mit den Dingen, die ich mir im stillen Kämmerlein, ganz für mich allein ausgemalt hatte. Und gleichzeitig war mein Kopf wie leer gefegt. Dafür begann sich nun mein Bauch mit einem sachten Kribbeln zu regen, dessen Wärme sich langsam in mir ausbreitete.

Im nächsten Moment bemerkte ich den leicht scharfen Pfefferminzgeschmack seines Kaugummis, der sich auf meiner Zunge mit dem Zitronenaroma meines Bonbons vermischte. Seufzend lehnte ich mich an ihn.

Da löste er sich von mir und sah mir mit verschmitztem Lächeln in die Augen.

„Wobei, eigentlich wolltest du ja nicht vorgewarnt werden“, grinste er.

„Wenn du mir jetzt noch sagst, dass du dir seit zwei Monaten jedes Mal vorsichtshalber einen Kaugummi in den Mund schiebst bevor du die Bibliothek betrittst, wird es echt creepy, weil so viele Gemeinsamkeiten sind echt unheimlich.“

Er lachte leise und küsste mich zur Antwort noch einmal. Sanfter, vorsichtiger, zärtlicher. Und ebenso langsam und vorsichtig ließ er wieder von mir ab. Sein Blick brannte sich in meinen.

„Fühlt sich richtig an“, flüsterte er.

Ich sah in seine Augen und blieb stumm. Mir waren die Worte ausgegangen.

aus "Fragmente"

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