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Der Schlüssel

Sie hatte es nicht kommen sehen.


Sie legte den Schlüssel auf den Tisch und trat ans Fenster. Die Sonne ging gerade hinter den Baumwipfeln des nahen Waldes unter.


Heinrich hatte den ganzen Morgen gequengelt, er wolle nicht in die Schule. Der Lehrer und die anderen Kinder seien gemein zu ihm. Nur wegen dem bunten Pflaster über seinem linken Brillenglas. Sie hatte ihm über die dünnen, blonden Haare gestrichen, ihm das Pausenbrot gepackt und ihn dann trotzdem zur Schule gefahren.


Als sie Horst die Socken ins Zimmer gebracht hatte, war er nicht mehr da oder er war gar nicht nach Hause gekommen. Durch die dicken Schwaden aus Zigarettenrauch konnte sie seinen Teddy und das Lego-Raumschiff oben auf dem Kasten sehen. Auf dem Weg nach draußen war ihr die leere Spritze auf dem Nachtkästchen aufgefallen.


Sie wollte das alles nicht.


Vor dem Fenster wurde es Nacht. Sie öffnete den rechten Fensterflügel. Kalte Luft strömte ins Zimmer; Es roch nach Regen und Schnee. Sie lehnte die Stirn gegen das kühle Glas des linken Flügels. Das Fenster beschlug von ihrem Atem.

In einer Eiche schrie ein Waldkauz.


Kurt war gegen elf nach Hause gekommen. Er roch wieder nach ihr. Sie hatte sich schlafend gestellt. Im dunklen Schlafzimmer war er dann über seine eigenen Füße gestolpert. Oder über ihre leere Weinflasche vom Vorabend. Sie war erschrocken, weil er gestürzt war. Er fluchte, lallend. Rappelte sich wieder auf, kroch zu ihr ins Bett.

„Gute Nacht, Schatz.“

Sie hatte nicht darauf reagiert.


Jetzt gehörte das alles ihr.


Hinter ihr tickte leise die große Standuhr. Zählte die Sekunden, die ihr noch blieben. Zerhackte die Zeit in kleine Scheiben. Vor dem Fenster wuchsen Eisblumen auf dem Fensterbrett.

Der Waldkauz schrie wieder.


Der Anruf hatte sie beim Arbeitsamt erreicht. Wie immer, im ungünstigsten Moment, hatte sie gedacht. Der Beamte war verärgert gewesen, als sie entschuldigend abgenommen hatte. Danach war er besorgt gewesen, hatte Wasser und Traubenzucker bringen lassen. Sie hatte sich nicht einmal gewehrt, als er ihr ein Taxi bestellt hatte.


Sie hatte ihr noch so viel sagen wollen.

Den Schlüssel hatte sie seit Monaten nicht mehr in der Hand gehabt. Wollte nicht aus der Stadt hierher. Aus der Hektik in den Frieden. Aus dem Verdrängen zum Erklären. Und hatte doch immer Heimweh.


Zu spät.


Durch die beschlagene Stelle am Fenster bahnten sich salzige Wassertropfen einen Weg. Der Waldkauz war verstummt. In der Ferne schlug ein Glöckchen.

Das Totenglöckchen.


Jane E. Walters

03. Jan. 2017

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