
Autorin
Autorin
Jane E. Walters
Jane E. Walters
Juli 2022
Juli 2022
Die Späher
Die Hitze war unerträglich. Selbst im Schatten unter den Bäumen, wo sonst immer eine angenehme Brise wehte, war es jetzt windstill und drückend schwül.
Tom sah zu Clio hinüber, die erfolglos versuchte, sich durch wildes Gewedel mit einem Blatt Papier abzukühlen.
„Hast du schon irgendetwas entdeckt?“, fragte er leise.
Sie warf ihm einen entnervten Blick zu und stieß ein Schnauben aus.
„Ich sitz am selben Ort wie du, du Dödel. Wie soll ich da etwas anderes oder mehr entdeckt haben als du?“
Tom zuckte mit den Schultern. Selbst diese kleine Bewegung schien ihm den Schweiß auf die Stirn zu treiben.
„Naja, du weißt doch, was man sagt: Vier Augen sehen mehr als zwei.“
„Pff!“
Clio verdrehte die Augen und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Horizont zu. Sie schüttelte leicht verärgert den Kopf und wünschte sich ein kühles Getränk her.
Tom betrachtete sie einen Augenblick. Ihre kurzen, blond und grau gefärbten Haare standen am Scheitel wirr von ihrem Kopf ab und klebten nass und verschwitzt in ihrem Nacken. Im Profil zeichnete sich ihre schnurgerade Nase noch schärfer gegen den blauen Himmel ab und ihr offensichtlich wasserfester Lidstrich zitterte leicht, als sie die Augen zusammenkniff und das Kinn konzentriert vorschob. Tom folgte ihrem Blick, doch der Horizont präsentierte sich ihm so klar wie zuvor.
Clio neben ihm richtete sich auf und schnellte im Bruchteil einer Sekunde aus der Hocke in den Stand. Ihre Augen waren um Welten besser als seine. Archie hatte seine Gründe gehabt, warum er sie ihm zur Seite gestellt hatte.
„Sie kommen“, sagte sie emotionslos.
Während Tom sich ebenfalls hochstemmte, drehte sich Clio um, blickte zum Mauerabsatz über dem Torbogen und stieß dann mit zwei Fingern im Mund einen markanten Vogelschrei aus. Noch ein Grund, warum Archie Clio gewählt hatte. Niemand konnte so exzellent Vögel imitieren wie sie. Toms Spezialität waren Hirsche und Keiler, mit dem Buntspechtruf wäre er überfordert gewesen.
Ein Fenster quietschte, als es geöffnet wurde, und Henrik streckte den Kopf ins Freie.
„Wie viele?“, rief er leise.
Tom kniff die Augen zusammen und blinzelte zum Horizont. Die Luft flimmerte ob der Hitze, aber ansonsten konnte er noch immer nichts entdecken.
„Drei Erwachsene, vier Teenies und zwölf Kinder.“
„Perfekt“, tönte es von oben und Henrik schloss das Fenster wieder.
Ungläubig schüttelte Tom den Kopf.
„Wie hast du das auf die Entfernung schon erkannt?“
Clio zog einen Mundwinkel zu einem verschmitzt-spöttischen Grinsen hoch.
„Gar nicht.“
Verwirrt runzelte Tom die Stirn.
„Hä?“
Aus ihrer Hosentasche holte Clio ein schwarz glänzendes Handy hervor.
„Mein Bruder ist Lehrling bei Meister Tusker. Er hat mir geschrieben, mit wie vielen Schülern, Lehrlingen und Gesellen sie heute zum Turnier antanzen werden. Gesehen habe ich nur die Aschewolke von den Pferden, die sie dabei haben.“
Sie nickte in eine Richtung, in der Tom nun glaubte, winzige Punkte zu erkennen, die sich langsam auf die Burg zubewegten. Er zuckte anerkennend mit den Augenbrauen und sah dann zu Clio hinüber, die ihn halb triumphierend, halb schelmisch betrachtete.
„Archie wird nicht erfreut darüber sein, dass du das noch benutzt“, meinte er und wies auf das Handy.
Clio ließ es wieder in die Tasche gleiten und zuckte die Schultern.
„Was Archie nicht weiß, macht ihn nicht heiß.“
„Dein Wort in Merlins Ohr“, erwiderte Tom.
„Wir werden sehen“, feixte Clio.